Locomore: Enttäuschung auf kurzer Strecke

Auf eine Tasse Kaffee … testete ich in der ersten Januar-Woche den neuen „Locomore“ zwischen Hannover und Göttingen. Aufgrund der vielen Nachfragen habe ich mich zu einem ausführlicheren „Reisebericht“ entschlossen. Mit dem Versprechen „Jetzt seid Ihr am Zug“ fährt der private Fernzug seit dem 14. Dezember einmal täglich von Berlin nach Stuttgart und zurück. Dabei schafft er täglich am Vormittag eine zusätzliche Verbindung zwischen Göttingen (10:20 Uhr) und Hannover (11:15 Uhr) sowie am Nachmittag von Hannover (16:46 Uhr) nach Göttingen (17:41 Uhr). Die Neugierde war groß: das erste crowdfinanzierte Eisenbahnunternehmen, modernisierte IC-Reisewagen, öko-faire Bordverpflegung, unterwegs mit Naturstrom, kostenloses W-LAN und die Möglichkeit, sich einen Platz in den Themenabteilen zu buchen, um „inspirierende Gespräche zu führen und neue Menschen kennenzulernen“. Und das alles zudem noch schnell und günstig. In meinem Kopf entstanden Bilder nostalgischer Eisenbahn-Romantik, sprühender Kreativität und vom Aufbegehren des Locomore-Davids gegen den DB-Goliath ab. Um es gleich vorwegzunehmen: Geblieben ist von dem Zauber (fast) nichts, meine Premierenfahrt war eine große Enttäuschung.

Gebucht hatte ich die Fahrt zwei Tage vorher über den unternehmenseigenen Online-Ticketshop. Mit 17 Euro für ein „Basic-Ticket“ bekam ich zwar nur noch den sogenannten (maximalen) „Flexpreis“, mit etwas mehr Vorlauf wäre aber durchaus ein Ticket ab 7 Euro drin gewesen. Hätte ich anstatt der 55 Locomore-Minuten die 34-minütige ICE-Fahrt gewählt, wären unter Nutzung der „BahnCard 50“ und ohne Sparpreis 18 Euro fällig gewesen. Allerdings wäre da auch der Nahverkehr am Abfahrts- und Ankunftsort enthalten gewesen, das Locomore-Ticket gilt dafür nicht. Beim Neuling hingegen ist die Sitzplatzreservierung nicht nur verbindlich, sondern auch kostenlos. Der Ticketkauf selbst war einfach und benutzerfreundlich. Problemlos ausgewählt, schnell online bezahlt, Ticket ausgedruckt und schon durfte die Vorfreude aufkommen.

Beginn einer Bahnfahrt: Einsteigen, bitte! Aber wo?

Am Bahnsteig suchte ich zunächst Orientierung: Wo finde ich Wagen 7? Weder am Wagenstandanzeiger, noch an der Anzeigetafel fanden sich Informationen zur Wagenreihung. 4,7,10,6 – wie Perlen zufällig an einer Kette aufgezogen, fuhren die sieben Wagen schließlich auf dem Gleis ein. Sogar auf die übliche Ansage „Auf Gleis 7 erhält jetzt Einfahrt …“ wurde verzichtet. Dass „mein“ Wagen am anderen Ende des Bahnsteigs zum Stehen kam, erklärt sich durch mein persönliches „Murphys Gesetz“. Da der Zug etwas früher als angekündigt ankam, reichte es immerhin für die Wagensuche vom Bahnsteig aus. Mein gebuchtes Abteil war mit sechs Personen voll besetzt – wie der Zug auch sonst gut gefüllt war. Das Angebot wird offenbar gut angenommen, so mein Eindruck, als ich mich in den tiefen roten Polstersitz am Fenster gleiten ließ. War die Beinfreiheit damals auch schon so gering? Erinnerungen an vergangene Zeiten weckte zumindest das Pfeifen des Fahrtwindes durch die Fensterdichtung und das regelmäßige Rattern der Eisenräder auf den Gleisen. Das hat irgendwie ‘was, dachte ich. Aus dem Lautsprecher kam eine freundliche Begrüßung. Als wir den Hauptbahnhof Hannover in Richtung Nordwesten verließen, wurde mir klar, warum der Zug trotz der Nutzung der Neubaustrecke nach Göttingen 55 Minuten braucht. Damit kein Richtungs- oder Lokwechsel auf dem Weg von und nach Berlin notwendig wird, verlässt der Locomore den Hauptbahnhof Hannover nach Göttingen in Richtung Nordwesten: Über Leinhausen, die Ahlemer Kurve und Linden-Fischerhof macht der Zug einen großen Bogen um die City, um dann südlich des Maschsees (wieder) auf die Neubaustrecke einzuschwenken. Rund 15 Minuten kostet dieser Umweg.

Erkundungstour von der roten Laterne bis zur Zugspitze

Informationen zum Zug oder Fahrtverlauf lagen nirgendwo aus. Ich schickte mein Handy und mein Tablet auf die Suche nach dem W-LAN. Doch eine Verbindung zum Internet war nicht möglich. Das sei schon die ganze Fahrt so, berichtete einer der Mitreisenden. Also beschloss ich, auf Erkundungstour zu gehen – einmal von der roten Laterne bis zur Zugspitze und zurück. Besonders die sehr unterschiedliche Ausstattung der Reisewagen fiel auf – passend zum Motto des Bord-Caterings „Vielfalt an Bord“. Kein Wagen gleicht dem anderen, alle verfügen über neue Polster und Beschriftungen in den orange-rot-braunen Locomore-Farben. Doch die Modernisierung scheint sich auf das Äußere beschränkt zu haben: So zählte ich – nur drei Wochen nach Inbetriebnahme (!)  – nicht weniger als 6 defekte Toiletten und 5 defekte Türen. Viele der Abteile und Großraumwagen-Bereiche sind bestimmten Zwecken vorbehalten – für Familien, Business-Kunden oder als Fahrrad-Wagen. Eine Freude machten die Kinder, die im Familien-Großraum-Abteil die Spieleboxen für sich entdeckt hatten und auf dem mit Teppich ausgelegten Fußboden mit der Holzeisenbahn spielten. Wer ein „Business“-Ticket bucht, erhält einen Platz in einem maximal nur halbgefüllten Abteil. Zumindest theoretisch, denn in einigen der ausgewiesenen „Business“-Abteile waren vier der sechs Plätze belegt. Mit der Beinfreiheit war es daher nicht weit her. Zwischen 13 bis 26 Euro kostet das „Business-Ticket“ von Hannover nach Göttingen – inklusive eines „Komfort-Kissens“ und einer Tageszeitung. Ab einer Fahrtzeit von 60 Minuten sind auch ein Snack und zwei Getränke enthalten. 5 Minuten können also entscheidend sein. Ist etwas mehr Beinfreiheit den fast doppelten Fahrpreis wert? Ansichtssache.

Auf der Suche nach einer Tasse Kaffee

Mir war nach einem Kaffee. Angepriesen wurde im Vorfeld eine „öko-faire Bordverpflegung“ mit Service am Platz. Ein Bordrestaurant gibt es im Locomore grundsätzlich nicht und auch ein Verkaufswagen ist mir im gesamten Zug nicht begegnet. Allerdings wurde in der Mitte des Zuges aus einem umgebauten Schaffner-Abteil heraus ein recht umfangreiches Snack- und Getränkeangebot verkauft. Von beiden Seiten bildeten sich kleine Schlangen, ein Vorbeikommen auf dem engen Gang wurde zu einer Herausforderung. Ich bestellte einen Becher Kaffee für den Rückweg ins Abteil – mit 1,80 Euro war dieser vergleichsweise günstig. Ein zweites Mal ging ich an den Themenabteilen vorbei, die meine Neugierde besonders geweckt hatten. Doch die Ernüchterung war (auch hier) groß: Gleich, ob es um die Themen „Startup Networking“, „Häkeln, Stricken & Co.“, „Fotografie“, „Eisenbahn“ oder „Schach“ ging – die Reisenden schienen froh darüber zu sein, überhaupt noch irgendeinen Platz ergattert zu haben und vermieden untereinander jegliche nicht notwendige Kommunikation. Allein zwei Rucksacktouristen taten das, was ich von ihnen erwartet hatte: Im Themenabteil „Backpacking & Couchsurfing“ teilten sie begeistert ihre Reiseerfahrungen. Jedenfalls hatte es den Anschein – und ich wollte es gerne glauben.

Zurück am Platz, versuchte ich es nochmal mit dem W-LAN. Keine Chance, auch nicht bei den anderen Reisenden. Also ließ ich Revue passieren, was ich gesehen hatte. Vom anfänglichen Zauber war wenig geblieben. Zugegeben: Nicht alle unerfüllten Erwartungen lagen in der direkten Verantwortung von „Locomore“. So sind die Themenabteile nur ein Angebot, das sich sicherlich noch herumsprechen muss. Doch es schien, dass der Zug vor allem von Schnäppchenjägern aller Altersklassen genutzt wurde – als schnellere Alternative zum nur etwas günstigeren Fernbus. Überzeugte Bahnreisende sahen anders aus. Und die eigentlich ganz spannende „Story“ des modernen Zug-Pioniers schien wenige zu interessieren. Ob dem kleinen privaten Eisenbahnunternehmen der Spagat bei der Zielgruppenansprache künftig besser gelingt, wird sich zeigen. Und so werde ich dem Locomore sicherlich irgendwann eine zweite Chance geben. Aber das Urteil meiner Premierenfahrt lautet dennoch: Gerade noch ausreichend, Vier minus. Um preiswert von Hannover nach Göttingen zu kommen, ist der neue Fernzug eine Alternative – eine Chance gegen Goliath hat David so aber nicht. Aber immerhin: 5 Minuten vor der planmäßigen Ankunft fuhren wir im Bahnhof Göttingen ein. Eine Überpünktlichkeit, die ich von der Deutschen Bahn so nicht kenne …

Autor: Andreas Bosk